HA HS

(Hausarbeit Hauptseminar; Die letzte im Bachelor)

Nacktheit als Selbstbildnis und Türen als Symbol in Dorothea Tannings Birthday (1942) – und den Vergleichsbildern Eine kleine Nachtmusik (1943) und Avatar (1947)

In: Ikonographische Erklärungen zu neuer Kunst

  1. Ikonographie neuer Kunst

„Neue Kunst“ meint zeitgenössische Kunst und Moderne. „Um gut über neue Kunst zu schreiben, muss man[, meine ich,] Interesse mitbringen und gerade bei  der unerwarteten, irritierenden, konsequenten neuen Kunst Maß nehmen […]. Man muss es versuchen, auch wenn es keine Garantien gibt“. Und Ikonographie als wissenschaftliche Methode der Kunstgeschichte für die Bestimmung und Deutung von Motiven weist gerade mit neuer Kunst ein enormes Angebot auf. So geht neue Kunst grundsätzlich vom Außergewöhnlichen aus. Zeitgenössischer Kunst sollte die Möglichkeit eingeräumt werden, sich selbst auszustellen, darzustellen und auszudrücken, auch völlig losgelöst von dem, was es zuvor bereits gab. Und wenn (neue) Kunst nicht auf Anhieb verstanden werden kann, birgt sie oftmals die größte Chance gute Kunst zu sein. 

In dieser Arbeit soll anhand dreier Werke Dorothea Tannings untersucht werden, wie die ikonographische Bedeutung in diesen gelagert sein kann. Tannings Selbstbildnis in Birthday und das Symbol der Türen in allen drei Gemälden werden hier als die zentralen ikonographischen Elemente erforscht. 

1.1 Die Unterschiede in der Ikonographie älterer/alter Kunst und neuer Kunst

„Was ist an neuer Kunst überhaupt neu und anders – und welche Konsequenzen hat das für den Umgang mit ihr“, ist eine Frage, der wir nachgehen sollten. 

Der Status von Allegorie ist in den vergangenen zwei Jahrhunderten, im Vergleich zu den früheren, fragwürdig geworden. Ursache hierfür ist ein tiefgreifender Wandel im Hinblick auf das ästhetische Denken. Dieser hat sich um die Jahrhundertwende 1800 angedeutet. Damals wurde innerhalb der Ästhetik, dem Symbol eine Schlüsselstellung zugewiesen.

Für den Kunsthistoriker ist es im Hinblick auf die Ikonographie älterer/alter Kunst immens wichtig, sich einen umfassenden Überblick über die Mythologie der Antike zu verschaffen. Hierzu bedient er sich Lexika, die jedoch wenig nutzen, da sie die vielfältigen Zusammenhänge der einzelnen Götter und Heroen untereinander nicht so erklären können, um diese schlüssig zu vermitteln. Sie helfen und unterstützen jedoch bei der Deutung älterer/alter Kunst. Auch unterstützt einen bereits zuvor Erkanntes und bereits zuvor ikonographisch Gedeutetes, auf das in der Folge aufgebaut werden kann. Für die Ikonographie der Renaissance und des Barock war beispielsweise der Euhemerismus erfolgreich und folgenreich zugleich.

Und während in früheren Jahrhunderten wiederholt auf sakrale Motive zurückgegriffen wurde, es hierbei um ein Wiedererkennen bereits Bekanntem geht und ging, fordert die neue Kunst mehr Freiheiten, distanziert sich von Wiederholungen und will damit ein Neuerkennen beim Betrachter erreichen.

Nie nämlich ist das Neue (allen) schon vertraut, was zugleich Reiz als auch Schwierigkeit ausmacht. „Die Ikonographie ist mit [dem Prinzip] l’art pour l’art [aber] nicht an ihrem Ende angelangt. Kunstrichtungen, die sich von allen verbal fassbaren Bildinhalten losgesagt haben, waren und sind nur Strömungen neben anderen. Kennzeichen der Moderne ist die Pluralisierung der Möglichkeiten“.

1.2 Ikonographie (neuer Kunst) als die Wissenschaft vom Verstehen

Um das Verstehen des Gesehenen muss es in der neuen Kunst gehen, da sich die Künstler selbst – circa ab dem 20. Jahrhundert bis heute – als freier hinsichtlich ihrer abgebildeten Sujets sehen und verstehen. Dies verlangt und ermöglicht flexiblere Interpretationen beim Kunsthistoriker. Parallelen zu bereits Vorhandenem können möglicherweise gezogen werden, viel wahrscheinlicher aber ist eine offene Herangehensweise an derartige Sujets von Nöten. Eine Rolle spielen dabei sicherlich auch die jeweiligen Kunst- und Denkrichtungen der einzelnen Künstler, auch wenn sich diese bekanntlich nur äußerst ungern auf eine Stilrichtung festschreiben lassen wollen.

1.3 Möglichkeiten und Herangehensweisen zur Deutung neuer Kunst 

„Ich möchte zeigen, dass neue Kunst Charakteristika hat, die anderes [Schreiben] erfordern“, und genau so erfordert die neue Kunst auch eine andere Herangehensweise, aufgrund ihrer anderen Charakteristika, im Hinblick auf Deutung. Bei neuer Kunst kann es um „Verdachtsmomente“ gehen, und dabei um ein Wiedererkennen – vielleicht eher Erahnen – im Entdecken, etwas vormals Ähnliches gesehen zu haben. 

Dann gibt es andere Kunsthistoriker, Schreiber, die sich bestimmten Bildern neuer Kunst bereits angenommen haben, und auf deren ikonographische Deutung man sich entweder stützen, aufbauen oder von der man sich – wissenschaftlich gekonnt – distanzieren will. Möglicherweise hat man andere Ideen ein Bild neuer Kunst zu interpretieren und dessen Ikonographie zu deuten, weil man anderes oder anders gelesen und anderes oder anders gesehen hat als ein anderer. Vielleicht gibt es zahlreich oder auch nur vereinzelt Interviews mit dem Künstler, und man hat diesen womöglich sogar selbst interviewt. Im Hinblick auf jede Kunst ist auch immer der zeitliche und geografische Kontext zu sehen, erkennen und zu fassen, die Biografie des Künstlers in der Epoche neuer Kunst, um Hintergründe zu verstehen, zuordnen zu können. 

2. Dorothea Tanning

Dorothea Tanning wurde am 25. August 1910, als Tochter schwedischer Einwanderer, in den Vereinigten Staaten Amerikas, in Galesburg (Illinois) geboren. Sie wurde 101 Jahre alt und starb am 31. Januar 2012 in New York, wo sie langjährig als Künstlerin tätig gewesen ist. Tanning war US-amerikanische Zeichnerin, Grafikerin, Bildhauerin, Bühnen- und Kostümbildnerin, Illustratorin und Malerin. Sie war in zweiter Ehe mit dem deutschen Künstler Max Ernst verheiratet. 

Durch eine 1936, im Museum of Modern Art, in New York, stattfindende Ausstellung wurde Tannings Interesse an der Kunst des Surrealismus geweckt. In den 1940er Jahren malte Tanning traumartig-surreale Szenerien und Frauenbildnisse und war bereits 1943 mit dem surrealistischen Birthday (1942) in der Ausstellung Exhibition by 31 Women, die von Peggy Guggenheim geleitet wurde, vertreten. Diese Ausstellung war ursprünglich für 30 ausstellende Künstlerinnen veranschlagt worden, wobei sie später auf 31 Teilnehmerinnen erweitert wurde.

Tanning beginnt eine Liebesbeziehung mit Guggenheims Ehemann Max Ernst, lässt sich mit diesem in Arizona nieder, sie heiraten und leben später in Paris und an anderen Orten in Frankreich. Nach dem Tod ihres Ehemanns kehrt die Amerikanerin nach New York zurück, wo sie weiterhin bildkünstlerisch tätig ist, sich vor allem aber dem Schreiben widmet. Tanning wehrte sich bis ins hohe Alter, wie Meret Oppenheim und Leonora Carrington, zwei andere Künstlerinnen, die der selben Epoche zugeschrieben werden, auch, als Künstlerin des Surrealismus klassifiziert zu werden. Zudem weigerte sie sich – nachdem der Erfolg sich erstmal eingestellt hatte – ihre Werke zusammen mit anderen Frauen in Ausstellungen zu zeigen. Sie wollte als Individuum gesehen werden. Zu diesem Streben und Sein als Indivividuum und nach Individuellem, das so typisch für viele Künstler und Künstlerinnen unterschiedlichster Epochen ist, schreibt Georg Simmel: 

Alles, was wir Individualität nennen, mag es als Sein, als Empfindung als Sehnsucht auftreten, geht auf ein nicht weiter ableitbares Verhalten oder einen Urtrieb zurück, für den in der untermenschlichen Natur kein Ansatzpunkt auffindbar erscheint.

Gerade viele Künstler gelten als Außenseiter der Gesellschaft. So verwundert eine Forderung nach Individualität – wie sie auch Tanning, in ihrem künstlerischen Wirken gesehen werden zu wollen, zueigen war möglicherweise nicht so sehr, wie sie dies beim „Nicht-Künstler„ nicht würde, welcher vermutlich eher daran scheitern könnte. 

Dorothea Tannings bekanntestes schriftstellerisches Werk dürfte ihre erste poetisch verfasste Autobiografie Birthday sein, die somit den selben Namen trägt wie das in dieser Arbeit ikonographisch zu deutende Gemälde Birthday von ihr. Auch die beiden hier vorgestellten Vergleichswerke sind der Epoche des Surrealismus zuzuordnen. „Nach 15 Jahren Surrealismus erschien ihr die Bewegung ein wenig gekünstelt“, und sie wandte sich anderem Arbeiten zu.

3. Tannings Selbstbildnis Birthday

Sometimes we have more than one day on which we’re born […] Sometimes something happens in the middle of your life that makes you feel as if you’re just born, a turning point, a birthday […],

beschreibt die Künstlerin selbst die Bedeutung ihres Gemäldes Birthday (Abb.1).  Das Gemälde markiert zudem ihre einschneidende Begegnung mit Max Ernst, der an einem Tag zu ihrer Wohnung gekommen war, um dieses und andere ihrer Gemälde anzusehen. Hintergrund seines Besuchs war, dass er für seine damalige Frau Peggy Guggenheim auf der Suche nach Künstlerinnen war, die diese in ihrer von ihr selbst kuratierten Ausstellung 30 Women zeigen konnte. Der Vorschlag zum Titel Birthday für dieses Werk Tannings stammt dabei von Max Ernst und von diesem Tag. 

Tannings Bild Birthday entstand im Jahr 1942 in Öl auf Leinwand. Das Gemälde misst 102,2 cm mal 64,8 cm und befindet sich heute im Philadelphia Museum of Art in den USA. Das Gemälde im Hochformat zeigt Dorothea selbst, wie sie barfuß und mit entblößtem Oberkörper in einem Raum steht und mit der linken Hand den Türknauf einer geöffneten Tür, in der Hand hält, die in einen weiteren Raum führt, in dem eine ebenfalls geöffnete Tür, den Blick auf einen weiteren Raum freigibt. Die Motivik mit der Tür wiederholt sich im gesamten sechs Mal, wobei ein siebtes Mal durch den leeren Türrahmen ganz hinten im Bildhintergrund angedeutet ist (Abb. 2). Eine siebte Tür befindet sich, ebenfalls geöffnet, von Betrachterseite aus gesehen links der Protagonistin. Eine achte Tür lässt sich, beginnend in der rechten, oberen Bildecke, nach unten bis knapp über die Längsachse der Bildhälfte erstreckend, erahnen. 

Die Türen sehen identisch, mindestens ähnlich aus. Sie scheinen Holztüren darzustellen, die – vorne, beginnend ab dem Bildmittelgrund – weiß gestrichen sind, sich nach hinten, und damit mit jeder Tür, jedoch als zunehmend weniger weiß angestrichen, in einem mittelbraunen Holzbraun präsentieren. Alle Türen stehen für den Betrachter in einem annähernden Winkel von 45 Grad. 

Tanning sieht den Betrachter nicht an, sondern sieht ins Leere, beziehungsweise ist ihr Blick in ihr eigenes Inneres gerichtet (Abb.3). Der Blick kann als melancholisch, doch hoffnungsvoll gedeutet werden. Eine Quelle schreibt auch von deadly serious. Unterstrichen wird die Bedeutung ihres Blickes von der linken Hand am Türknauf der vordersten Tür, den sie fest umfasst, sowie ihrem linken Fuß, durch den man eine beinahe horizontale Linie ziehen könnte. Mit diesem fußt sie fest auf dem Boden auf und hat sich bereits vom Betrachter abgewandt. Genauso scheint ihre Körperhaltung dem sich nach hinten öffnenden Raum zugewandt zu haben. Dass sie zuvor anders gestanden haben könnte, lässt ihr rechter Fuß vermuten, durch den sich eine senkrechte Linie ziehen lässt, und der damit parallel zum Hochkantformat des Gemäldes steht. (Abb.1)

Mit diesem rechten Fuß steht sie nicht fest – sondern bereits loslassend – auf dem Holzboden des Raumes, und nurmehr auf Fußspitzen und Ballen. Im sich öffnenden Winkel ihrer Füße sitzt vor ihr ein Fantasiewesen. Bei diesem Tier handelt es sich ganz offensichtlich um ein Mischwesen, die sowohl in Texten als auch in Bildern als Symbol für Metamorphosen stehen, bei Künstlerinnen innerhalb des Surrealismus auch als Metapher, Symbol, Totem, Karikatur oder Mythos. (Abb. 1)

Tanning trägt das Deckhaar ihrer gelockten brünetten langen Haare am Oberkopf locker nach hinten gesteckt. Die Locken fallen am Hinterkopf frei hinter ihren Rücken. Ihr Gesicht erscheint dezent geschminkt (Abb.3).

Sie trägt einen auffallenden, strahlend violetten Blouson im Elisabethan-style – was sie als genau einen solchen Blouson diesen Stils auch bei einem Interview benannte. Der Blouson scheint aus Satin zu sein und bauscht sich um die Schultern und Arme voluminös. Breite goldfarbige Streifen im Stoff sowie goldfarbige Kordeln am Ober- und Unterarm – um den Stoff geschwungen – betonen die auffallende Optik genauso wie die ausladende Form. Die Bündchen der Jacke könnten aus Spitze sein und sind ebenfalls goldfarben, mit weißem Garn kombiniert. 

Um ihren nackten Bauch trägt Tanning ein graues gerafftes Stoffband, das zu ihrem Rock zu gehören scheint. In diesem Band hält sie den Daumen der rechten Hand locker eingehakt, wobei ihre Hand damit auf Höhe ihres Bauchnabels zum ruhen kommt. Ihre jugendlich-jung anmutenden Brüste weisen circa die Größe und Form einer halben Grapefruit auf. Die Brustwarzen sind in einem Gemisch aus einem hellrosa und hautfarbenen Ton gemalt. Sie sind als etwa münzgroß zu werten. Unter Dorothea Tannings Brüsten bilden sich unter ihrer straffen Haut und schlanken Silhouette die Rippen ab. (Abb.3)

Am außergewöhnlichsten an ihrer Bekleidung, neben der Tatsache, dass sie am Oberkörper bis auf die Arme ganz nackt ist, an den Armen den auffallenden Blouson in dem grellen violett und gold trägt und barfuß ist, ist, dass ihr grau-bräunlich changierender Rock an den Seiten und hinten eine unebene Beschaffenheit aufzeigt, die, auf den ersten Blick, an begrünte Äste oder Wurzeln erinnert. (Abb.4) Dieses Ast- oder Wurzelwerk erstreckt sich von Tannings Hüfte hinab bis zu ihren Fesselgelenken, trägt auf, und lässt auf einen zweiten Blick erkennen, dass die vermeintlich begrünten Äste oder Wurzeln kleine nackte Frauenkörper darstellen, wobei selbst der ein oder andere Kopf und Gesichter erkannt werden können. (Abb.4) Dieses Detail am Rock ist es, das zweifellos surrealistisch anmutet. 

Sechs Jahre nach Schaffung dieses Gemäldes schreibt Tanning über die Transformation der Daphne in einen Baum in Bezug auf genau dieses Bild.

Dorothea Tanning stellte sich in diesem Selbstbildnis im Prozess einer Metamorphose dar, „a „rebirth“ from one state to another.“ Dies wird durch ihre optische Erscheinung genauso ausgedrückt wie durch das vor ihr sitzende tierische Wesen. So drückt sie Abgrenzung vom Normalen, vom Bewusstsein, mittels der Individualität der Verwandlung und des Unterbewussten aus. Nach Simmel unterstreicht Individualität auf der einen Seite ein Verhältnis, sich in gegensätzlichen und widersprüchlichen Extremen, mit der Welt zu befinden. 

Auf der anderen Seite betont diese Individualität zusätzlich die In-sich-Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit des Protagonisten. Hierzu passt gut, dass Tanning als Protagonistin sich derart porträtiert, dass sie auf der einen Seite entschlossen agiert und Stärke demonstriert: Hand am Türknauf (Abb.2), Körperhaltung (Abb.3) und Fußstellung (Abb.1); auf der anderen Seite jedoch sich in einer Art Wandel befindet, der noch nicht vollzogen ist, und ihr Blick, der melancholisch-hoffnungsvoll ist, zugleich – zeitgleich – widersprüchliche Extreme transportiert. 

„Individualität nennen wir die Form, in der dieses Doppelbedeutung der menschlichen Existenz sich zur Einheit bringen vermag […]“, wobei sich Simmels gemeinte Doppeldeutigkeit und Widersprüchlichkeit als Individuum stets gleichermaßen darauf stützt, Teil des großen Ganzen und ganz sich selbst zu sein.

3.1 Nacktheit als Selbstporträt in Birthday

Was provozierte, ist eher früher mal (gute) Kunst gewesen. Heute ist dieses Thema sehr ausgereizt. So stellt sich bei Dorothea Tannings Selbstbildnis die Frage, ob ihr Gemälde mit der Protagonistin in ihrer Nacktheit überhaupt noch provoziert, damals provozierte, oder nicht. Hierzu gibt es die Erkenntnis, dass von männlichen Surrealisten zwar kaum Selbstporträts existieren, von Frauen jedoch schon, doch die Auseinandersetzung mit Sexualität für die Frauen, die dieser Kunstepoche zugerechnet werden, kein zentrales Thema ihrer Arbeit darstellte. (Sissel schreibt zumindest von einem [kleinen] Statement, das Tanning mit den nackten Füßen und entblößten Brüsten setzt.)

Darauf kann auch bei Dorothea Tannings Birthday geschlossen werden, da sowohl Gesichtsausdruck als auch gewählte Pose nicht sexualisierende Kunst darstellen. (Abb.1 u. 3) Viel mehr scheint es Tanning dabei um den Menschen, den blanken, unmaskierten Menschen – da ohne Kleidung dargestellt – zu gehen, was sie in eigenen Aussagen so auch untermauert: 

„Wenn ich schwebende Akte male,“ sagte Dorothea Tanning, „dann ist das eine Aussage über das Menschsein. Manche glauben, dass es dabei um Erotik ginge. Es ist eine Obsession des doch nicht so kulturellen Betriebs, dass praktisch alles, was wir tun, was unerklärbar ist, auf Sexualität zu reduzieren wäre, und das ist absurd. Gewiss ist sie ein enorm starker Antrieb […] aber es gibt durchaus noch andere Verlangen, die sich benennen lassen, das nach Ruhm, für etwas zu brennen, das nach Liebe und Wissen. Mir gefällt die Vorstellung, dass etwas davon zu spüren ist, wenn man meine Bilder betrachtet“.

Nichtsdestotrotz ist das Interesse für Akte und Nacktheit für unsere Gesellschaft eines der allgemeinsten. Neben dem Interesse an nackter Haut sind es eben auch andere Attribute, die wir ihm zuschreiben. So bleibt er mit seiner Bedeutung stets schwer zu greifen, indem er zwischen Erotik und Genuss genauso pendeln kann, wie er unvermittelt eine/die Wahrheit in den Vordergrund zu spielen vermag.

So weckt er Begehren und Neugier gleichermaßen, und will am Ende vielleicht doch nur in seiner Tiefe, in seiner blankgezogenen Blöße, verstanden werden, ohne dass sich Erotik als Gefühl noch länger mit dazu mischt. Und damit sind wir bei Birthday von Dorothea Tanning, der es in ihrer Darstellung, sich halbnackt dem Betrachter zu präsentieren, vordergründig wohl kaum um den erotischen Aspekt gegangen sein kann. Zu dominant drängen sich hier die anderen Attribute in den Vordergrund und lassen ihren entblößten Oberkörper lediglich zu einem kleinen Teil der gesamten Komposition werden, der gleichermaßen Fragen aufwirft und beantwortet. Letzteres, indem er eine Verletzlichkeit, da nackte Wahrheit transportiert.

Ein Akt ist aber auch Präsenz, die sich den Blicken der Betrachter aussetzt, und das ist mutig. Hier im Gemälde Tannings können vielleicht Assoziationen hinsichtlich einer Amazone wach werden. Ähnlich wie ein männlicher Krieger steht sie mit nackter Brust da. Und das Wesen der Amazone ist so zwiespältig wie auch die Beurteilung davon. So verkörpert die Amazone Schönheit, höchste Anmut und Unberührbarkeit gleichermaßen. In vielen Kulturen sind sie Gründerinnen, Wegbereiterinnen und Visionärinnen, die sich, unabhängig von ihrem zarten und feminin attraktiven Äußeren, selbst genügen, die Individuen sind und bleiben und ihren eigenen Weg gehen. 

3.2 Die Türen in Tannings Birthday

In der Tate Modern in London lief unter dem Titel Hinter der Tür eine unsichtbare weitere Tür eine Ausstellung, die sich auf das immer wiederkehrende Œuvre Tannings mit dem Motiv der Türen bezogen hat. Tannings Türen würden sich dabei verborgenen Orten des Unterbewussten öffnen, und zu Traumwelten voller Hingabe führen, an welchen vorgegebene Ordnung in Frage gestellt würde und Tabus aufgehoben werden. 

4. Die Symbolik der Türen in neuer Kunst

Die Symbolik der Türen in Tannings Birthday weckt, aufgrund der Vielzahl der Türen, Assoziationen an Lewis Carrolls Alice im Wunderland, bevor Alice im Wunderland ankommt und sich in einem geschlossenen Raum mit Türen wiederfindet: 

„There were doors all around the hall […]“, – wobei die zahlreichen Türen im Novel Carrolls alle verschlossen waren: […] „but they were all locked; and when Alice had been all the way down one side and up the other, trying every door, she walked sadly down the middle, wondering how she was ever to get out again“. 

„The door motif [also] speaks to Tanning’s great love of German, French and English literature, and especially Lewis Carroll’s Alice in Wonderland (1865), whose seven-year-old protagonist was celebrated by many male and female surrealist’s“. Die Türe als Symbol wird zuerst gedeutet, als ein Portal zu einem Wunderland der Träume, der Fantasie, der Metamorphosen.

4.1 Ikonographie, Deutung, von dargestellten Türen

Die Türe ist als ein sich (relativ) selbst erklärendes Symbol zu deuten, das je nachdem, ob sie geöffnet oder geschlossen dargestellt wird, genau gegensätzlich gewertet wird. So kennen wir in unserer Kultur die Redewendung: „Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich ein Fenster“, die dafür steht, dass eine geschlossene Tür das Ende eines/dieses Weges bedeutet (ein geöffnetes Fenster eine neue Option sein kann). Eine offene Tür hingegen interpretieren wir als Möglichkeit und Chance, als etwas Neues, das wir wagen und ausprobieren können, wenn wir wollen. Lie Sissel schreibt davon, dass die offenen Türen etwas sagen möchten, nämlich über the unheard of possibilities in life.“ Sämtliche Türen in Dorothea Tannings Gemälde Birthday sind geöffnet (Abb.2), in ihren anderen Gemälden sind sie dies teils ebenfalls, oder geschlossen. 

Ein Künstler der mittels der Türensymbolik eine interessante Installation geschaffen hat, da sie ein Paradoxon abbildete, ist Marc Duchamp. Zwischen zwei Türöffnungen brachte er nur eine Türe an, die somit jeweils mindestens eine Türöffnung als geöffnet präsentiert. Niemals können in Duchamps Werk beide Öffnungen verschlossen, jedoch beide zeitgleich geöffnet sein. Tannings Gemälde weist eine Vielzahl von Türen auf, doch wenn in der rechten Bildhälfte nur eine der Türen geschlossen wird, sieht man die dahinterliegende Türen und sechs Durchgänge nicht mehr. (Abb.2) Wie Duchamp vermittelt so auch Tanning ein durchaus paradoxes (Gedanken-)Spiel mittels ihrer Türsymbolik. 

4.2 Resumé bezüglich der Ikonographie in Birthday

Dorothea Tanning wirkt in ihrem Selbstbildnis Birthday stark und unabhängig: durch ihr Oberkörper entblößtes Alleinstehen und ihre Entschlossenheit, die Hände, die Füße, und die aufrechte Körperhaltung sowie durch ihren Blick, der Hoffnung ausdrückt. Amazonenhaft gewertet werden kann ihre Präsenz, die mutig und zugleich weiblich, weich und feminin ist. Wie in Tannings eigenem Leben, ihre Unabhängigkeit und Individualität – gegen Verallgemeinerung und Vermischung mit anderen Künstlerinnen – betonend, scheint ihr gerade hier in diesem Selbstbildnis dies hervorzuheben von großer Wichtigkeit zu sein. 

Türen sind Symbole, die sich selbst erklären können und die hier einen Weg ins Ungewisse simulieren. Die Protagonistin im Bild ist entschlossen, diesen zu gehen. (Abb.2) Sie befindet sich innerhalb einer Metamorphose (Abb.4), einer Entwicklung, die durch die Türen und den im surrealistischen Stil gemalten Rock genauso unterstrichen wird wie durch das Fabel-Mischwesen, welches vor ihr auf dem Boden sitzt.

Interessant ist bei Tannings Gemälde auch die Frage, ob die Protagonistin wohl auf der rechten Bildhälfte durch alle Türen, von hinten kommend, bereits hindurch ging, und dann durch die Tür links im Bild gehend, den Weg auf den Platz findend, auf dem sie gemalt ist. Auch, ob sie den Raum mit dem Mischwesen erst betreten hat, oder ob sie bereits länger in diesem verweilt. Möglicherweise auch hält sie den Türknopf, der sich an vorderster im Bild befindender Tür befindet, in der Hand um diese zu schließen. Hat sie überhaupt den Blick auf die vielen geöffneten Türen rechts bereits erhascht, oder weiß/ahnt sie nur, dass etwas Neues auf sie wartet? 

Unübersehbar ist, dass ein Wechsel, ein Wandel für die Protagonistin stattfinden wird. Darauf weisen Türen, (Nicht-)Bekleidetheit und das Tier gleichermaßen hin. (Abb.1) Genauso stehen ihr Blick und ihre Nacktheit in diesem Zusammenhang für Präsenz (Mut und Entschlossenheit), Offenheit und Verletzlichkeit (Nacktheit und das Einlassen auf geöffnete Türen) und ein Wagen (Amazone in Metamorphose und die damit forcierte Veränderung). (Abb.3)

5. Die Ikonographie in Birthday im Vergleich mit anderen Werken Tannings

Damit Türen in Dorothea Tannings Œuvre als ein Leitmotiv gewertet werden konnten, hat die Künstlerin einige Gemälde geschaffen, bei denen sich eine oder auch mehrere Türen finden lassen. Birthday ist hiervon ihr bekanntestes Werk, weswegen auf dieses vorrangig eingegangen werden sollte. Als Vergleichsbilder dienen in dieser Arbeit zwei andere Werke der Künstlerin, die nur ein Jahr beziehungsweise fünf Jahre später entstanden sind. 

Während, im Vergleich zu Birthday, wo sich acht geöffnete Türen befinden (Abb.2), in einem der beiden anderen Werke drei geschlossene und nur eine geöffnete Tür dargestellt sind, ist es in dem zweiten insgesamt nur eine Tür. Und während der Betrachter in Birthday auf die erwachsene Protagonistin Tanning mit entblößtem Oberkörper blickt, findet sich in einem Vergleichsgemälde ein Mädchen, ebenfalls teilentblößt, im anderen Werk ein Mädchen in einem Schlafanzug und eine Art Laken gehüllt.

5.1 Die Türensymbolik Birthday im Vergleich mit anderen Gemälden 

Da bezüglich der Türensymbolik Parallelen gezogen werden und vergleichend interpretiert werden können, soll auf diese verstärkt eingegangen werden. Als Vergleichbilder dienen hier Dorothea Tannings Eine kleine Nachtmusik (Abb.5) aus dem Jahr 1943, in Öl auf Leinwand, 41 x 61 cm, das heute in der Tate in London ausgestellt ist, sowie Avatar (Abb.8), Öl auf Holz, 35,6 x 27,9 cm, das sich heute in einer Privatkollektion befindet.

5.1.1 Eine kleine Nachtmusik

Tannings Eine kleine Nachtmusik (Abb.5) ist eines der bekanntesten Gemälde der Künstlerin. Es bildet einen Korridor ab, der sich – aufgrund der Zimmernummern und des Interieurs – in einem Hotel im zweiten Stock zu befinden scheint. Auf dem auf dem Holzboden ausgerollten roten Teppich befinden sich zwei Mädchen (Abb.6), die in gegensätzliche Richtung, auf selber Höhe stehen. Da der Betrachter jedoch von links oben, diagonal auf das Bild blickt, ist die Linie, die sich durch die Körper der beiden Mädchen, von der Tür dahinter ausgehend, ziehen lässt, nicht sofort ersichtlich. 

Das Bild zieht sich diagonal nach rechts hinten, und so ist es auch die erste der vier Türen, die am größten dargestellt ist. Rechts von dieser Tür befinden sich drei weitere, die in gleichmäßiger Manier kleiner werden. Während die drei ersten Türen geschlossen sind, ist die vierte Tür einen Spalt weit geöffnet (Abb.7). Durch diesen Spalt kann man die Lichtquelle dahinter erahnen, da der Türspalt goldfarben erleuchtet ist. Bei den Türen selbst handelt es sich um unauffällige mittelbraune Holztüren mit rundem Metallknauf. 

Die auffälligen Details im Bild stellen die überdimensional gigantisch große Sonnenblumenblüte, die auf dem roten Teppich vor dem Treppenabgang platziert ist, genauso dar, wie die surrealistisch anmutenden Auffälligkeiten, die die beiden Mädchen aufweisen. (Abb.5) Während ein blondes Mädchen zum linken Bildrand zugewandt steht, ist dessen Oberkörper – wie der von Tanning in Birthday – bis auf die Arme entblößt. In der Hand hält sie ein Blütenblatt der Sonnenblume, und ihr Gesicht erscheint als eine Maske, da die sehr langen Haare ihr in unnatürlicher Art und Weise hinter der Stirn zu wachsen scheinen. Das Mädchen befindet sich in Trance, im Schlaf. Ihre Augen sind geschlossen und ihr Körpergewicht ist, obwohl beide Füße auf dem Holzboden aufstehen, so sehr nach hinten verlagert, dass sie so real nicht stehen könnte. (Abb.6)

Das andere Mädchen ist von schräg rechts hinten zu sehen. Die überlangen, circa bis zur Kniekehle reichenden brünetten Haare stehen ihr so zu Berge, als wäre sie kopfüber darstellt. Sie trägt weiße Kleidung und ist damit am ganzen Körper bekleidet. Ihr Rock, der voluminöse Wellen aufzeigt, endet in zwei langen breiten Bändern hinter ihr auf dem Boden. (Abb.6) Zwischen ihr und dem Sonnenblumenblütenkopf liegen wurzelartige Blütenstängel. Und in der rechten unteren Bildecke befinden sich noch zwei Blütenblätter der Sonnenblume. 

Im Gegensatz zu Birthday sind in Die kleine Nachtmusik zwei junge Mädchen dargestellt, deren – von dem einen entblößten Mädchen – nackter Oberkörper nicht mit dem der erwachsenen Tanning als Protagonistin des anderen Gemäldes verglichen werden kann. Allein, dass auch hier Erotik nicht das Ziel der Darstellung sein soll und beim Betrachter ausgelöst wird, soll gesagt werden.

Auch auf die surrealistisch abgebildete Sonnenblume soll nur insofern eingegangen werden, was Dorothea Tanning selbst dazu sagte:

„The sunflower in this picture is a symbol of all things that a young girl has to face and deal with […] it represents the never-ending battle we wage with unknown forces. It is a most aggressive flower, one that ravishes“.

Was die Symbolik der Türen betrifft, handelt es sich bei Dreiviertel der Türen um geschlossene. Da die Mädchen schlafwandlerisch wirken und sich die Szenerie nachts in einem alten Hotel abzuspielen scheint, ist davon auszugehen, dass hinter den Türen (andere) Gäste schlafen. (Abb.5) Die Örtlichkeit vermittelt damit die Atmosphäre einer merkwürdigen Anonymität, der die minderjährigen Mädchen in dieser Nacht, in ihrem Unterbewusstsein(?), traumwandlerisch(?) begegnen. 

Die geöffnete Tür (Abb.7) kann vordergründig für den Hotelraum der Mädchen genauso stehen wie unterbewusst aber vor allem für eine leuchtende, unbestimmte Zukunft, von der nicht bekannt ist, was sie den Mädchen bringen wird. Dass das Licht hierbei gelb-golden und hell strahlt, anstatt düsterer, gedämpfter oder auch kühler, lässt optimistische Schlüsse ziehen, die die Künstlerin hierbei als beabsichtigte Nachricht im Sinn hatte. Unterstrichen wird diese Zukunftsprognose noch dadurch, dass Tanning die Kinder wie folgt abbildete: „both powerful and vulnerable, magical and mundane […]

Der starke beziehungsweise entschiedene Charakter, deckt sich mit dem Selbstbildnis Tannings in Birthday. Auch wirken die Mädchen, obwohl dass sie schlafwandeln, wie zukunftsweisende, mindestens aber  zukunftsbejahende Amazonen. Die Kopfhaltung und der Gesichtsausdruck des blonden Mädchens, und die Armhaltung des brünetten Mädchens betonen diesen stolzen, starken Charakter. (Abb.6) Dass sie allen Grund haben vertrauensvoll in die Zukunft zu sehen, lässt das warme Licht hinter der spaltweit geöffneten Tür erkennen. (Dieses bestrahlt auch die Sonnenblumenblüte.) Auch in Birthday war die Zukunftsprognose – auch dort mittels dem Türsymbol transportiert -, und dort selbstgewählt, eine positive.

5.1.2 Tannings Avatar

In Avatar (Abb.8) wird das nächtliche Schlafzimmer zu einem chaotic circus, bei dem das Mädchen und ein Bekleidungsstück in der Silhouette des Mädchens an zwei Trapezen schwingen, die von der hohen Zimmerdecke hängen. In Vogelperspektive blickt der Betrachter von schräg vorn-oben auf das Zimmer. Das Bett am Boden wirkt so extrem klein. Die ganze Perspektive ist verzerrt und zieht sich in die hintere, untere Zimmerseite. Dort befindet sich links der Bildmitte eine geöffnete Tür. (Abb.10)

Das ebenfalls sehr langhaarige Mädchen befindet sich, wie auch die beiden Mädchen im Gemälde Eine kleine Nachtmusik, im Schlaf. Schlafwandlerisch, dabei genießerisch, mit geschlossenen Augen, leicht geöffnetem Mund und durchgedrücktem Körper, hält es sich am Trapez fest und schwingt soeben nach vorne durch. Dabei wird der Kopf des Mädchens von einer „gesichtslosen geheimen Macht“ sanft gestützt. (Abb.9) Surreal ist auch der Baum, der mitten im Zimmer wächst.

Im Gegensatz zu Birthday und Eine kleine Nachtmusik weist dieses Gemälde nur eine einzige Tür auf. (Abb.8) Wenn die geöffnete Tür wie in Eine kleine Nachtmusik auch kein ganz so strahlend warmes Licht dahinter enthüllt, bleibt die Symbolik einer geöffneten Tür doch ungebrochen. Da diese nicht geschlossen ist, verweist sie auf Offenheit, Möglichkeiten und (neue) Wege und zieht damit eine Parallele zu den Werken Birthday genauso wie Eine kleine Nachtmusik. Hier kann möglicherweise noch die Betrachtungsperspektive herangezogen werden, dass das Mädchen nicht getrennt von ihren Eltern und möglichen Geschwistern ist. Auch darauf könnte die geöffnete Türe verweisen und Grundvertrauen und Unbekümmertheit – in dieser surrealen Situation – für das Mädchen und den sie beobachtenden Betrachter vermitteln.

6. Fazit

Die Gemälde Birthday (Abb.1), Eine kleine Nachtmusik (Abb.5) und Avatar (Abb.8) von Dorothea Tanning distanzieren sich (in ihrer Außergewöhnlichkeit) von einem Wiedererkennen. So geht die Epoche des Surrealismus, der sich die Werke Tannings in den 1940er Jahren zuordnen lassen, mit der Beschäftigung und Übermittlung des Unterbewussten sowieso eigene Wege. 

Es kann in keinem der hier untersuchten Gemälde eine bestimmte oder dominante Parallele zu früherer/älterer/alter Kunst gezogen werden. Die Bilder drücken sich ikonographisch ganz durch sich selbst aus und bestechen durch eine Individualität, die durch die Erscheinung der jeweiligen Protagonistinnen noch intensiviert wird. Ist die Ikonographie der hier vorgestellten drei Werke auch losgelöst von bisher dagewesener Kunst, lassen sich untereinander sehr wohl Parallelen ziehen und deuten, die durch vorherrschende Symbolik und die jeweilige Bildsprache miteinander verknüpft werden.

So sind die Türen als Symbol, als ein gutes und eindeutig zu deutendes. In den drei vorgestellten Bildern Tannings sind sie allesamt positiv konnotiert: In jedem Gemälde nämlich findet sich mindestens eine geöffnete Türe, die Raum für neue Möglichkeiten und Erfahrungen gibt, den Mädchen – in Avatar und Eine kleine Nachtmusik – und der Künstlerin selbst im Selbstbildnis Birthday, Chancen einräumt und Überraschungen bergen wird.

Besonders positiv wird die Türsymbolik dadurch, dass warmes, freundliches, ja, goldenes Licht aus den geöffneten Türspalten strömt oder aber eine Vielzahl an Türen für die Protagonistin geöffnet sind, die die Quantität an Möglichkeiten aufzeigt und unterstreicht.

Die Optik Tannings in ihrem Selbstbildnis Birthday, und die der Mädchen in den beidem Vergleichsbildern wartet dazu mit individuell verbindenden Details auf: So tragen die immer weiblichen Protagonistinnen meist extrem langes, mindestens aber wild lockiges Haar, was beides auf Fließen und eine gewisse Freiheit hinzudeuten scheint. Ob diese Freiheit widerspenstig – da lockig oder gewellt lang – erreicht werden soll oder nicht, wäre eine weitere wichtige Frage, die sich aus der hier geführten Untersuchung ergeben kann.

Eindeutig jedoch hat es der Betrachter insgesamt mit starken, weiblichen Individuen zu tun. Individuen deshalb, weil sie, auch wenn sie in Eine kleine Nachtmusik zu zweit im Bild vorkommen, doch alle für sich allein stehen. Individuen auch aufgrund der Optik und weil ihre souveränen und selbstzufriedenen Körperhaltungen, – sowie Tannings Blick und die Hand entschlossen am Türknauf im Selbstbildnis verraten -, dass sie Amazonen sind und es mit dem Leben aufnehmen können, wollen und werden. 

Optimismus, den die geöffneten Türen und die teilweise dahinter vorkommenden Lichtquellen versprühen, spiegelt sich auch in Tannings Blick in Birthday wider, So er sich auch mit einer gewissen Melancholie mischen mag, das Entschlossene (und auf sich selbst Gerichtete) und vorwärts Gewandte überwiegen.

Steht die Sonnenblume für das was, alles auf die Mädchen in ihrem Leben zukommen kann, wird selbst diese Blüte vom goldenen Licht berührt, welches sich aus der geöffneten Tür in Die kleine Nachtmusik ergießt. Dies unterstützt den optimistischen Gedanken, der auch von den jungen Frauen getragen wird. So eindeutig die Bedeutung der drei vorderen Türen in diesem Bild ist, die geschlossen, in Hotel-Atmosphäre, eine merkwürdige Distanz aufzeigen und die der letzten Tür, die eine gute Zukunft prognostiziert, so unterschiedlich mag die Maske des blonden Mädchens im Bild gedeutet werden können. Auch dies ein Symbol, welches es zu untersuchen, in einer anderen Arbeit wert wäre.

Die wilde Kreatur zu Füßen der Protagonistin und Künstlerin gleichermaßen in Birthday bereitet dieser genauso wenig „Kopfzerbrechen“ wie das Schwingen am hohen Trapez des jungen Mädchens in Avatar, mehr noch, genießt diese den nächtlichen Ausflug in schwindelerregende Höhe, ins eigene Unterbewusstsein. Dies zeigt sich in ihrem Gesicht genauso, wie an ihrem schwingenden Körper. Tanning malte hier starke Frauen, die sich nicht auf eine Geschlechterrolle festlegen lassen. Deutlicher wird dies noch dadurch, da in den 1940er Jahren ein anderes Frauenbild als das heutige vorherrschend war.

Die amerikanische Künstlerin Dorothea Tanning bietet in ihren Werken, mittels der Symbolik der Türen, und durch die Teil-Entblößtheit der Protagonistinnen unterstreichend, eine freie, Individuelle Kunst durch gezeigte Individuen, die eine Verwandlung durchleben werden, welche positiv und offen ist. Die Gemälde müssen, wie sehr typisch für die neue Kunst – losgelöst von anderen Werken zuvor – ikonographisch gedeutet werden. So wie Kennzeichen der neuen Kunst eine Pluralisierung der Möglichkeiten, der Chancen, der Entwicklung und des Weitergehens sind, werden diese Möglichkeiten – doppeldeutig damit – auch vom Inhalt jedes einzelnen der Bilder hier unterstrichen. 

7. Bibliographie

Ausst. Katalog Schirn Kunsthalle Frankfurt. MAHON, Alyce. Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo. Hrsg. Ingrid Pfeiffer. Hirmer, München: 2020. S. 222—246.

Ausst. Katalog Schirn Kunsthalle Frankfurt. PFEIFFER, Ingrid. Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo. Hrsg. Ingrid Pfeiffer. Hirmer, München: 2020. S. 25—66.

Ausst. Katalog Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofia und Tate Modern London. Dorothea Tanning. Behind the Door, Another invisible Door. MAHON, Alyce. o.O: 2018. S. 14—36.

BODIN, Claudia in Art: das Kunstmagazin, Souverän surreal – ihr Leben umspannt das 20. Jahrhundert wie ein Film. Gruner + Jahr, Hamburg: 12/2018. Seiten 36-48.

BÜTTNER, Frank, GOTTDANG, Andrea, Einführung in die Ikonographie neuer Kunst.  4. Auflage, C.H. Beck, München: 2019.

CARROLL, Lewis. Alice’s Adventures in Wonderland. Quarto Publishing Group, New York / USA: 2016.

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JANHSEN, Angeli. Kunstverdacht = Art-suspect = Kunstverdacht. [online Ressource] 

https://freidok.uni-freiburg.de/data/9178 Albert-Ludwigs-Universität Freiburg: 2007.

JANHSEN, Angeli. Gut schreiben über neue Kunst. Reimer, Berlin: 2019.

KRONTHALER, Helmut, Allgemeines Künstlerlexikon: Dorothea Tanning. De Gruyter, 2021.

LIE, Sissel. Dorothea Tanning’s Birthdays and the Close-Boned Fundamental Experience. In: The Mimesis of Change. Conversation and Peripety in Life Stories. Faculty of Humanities and Education, University of Agder, Italien: 2020.

SIMMEL, Georg. Brücke und Tür. Koehler, Stuttgart: 1957.

TANNING, Dorothea. Birthday. Lebenserinnerungen. Kiepenheuer & Witsch, Köln: 1990.

TANNING, Dorothea, in Carlo McCormick, „Dorothea Tanning“, interview, in Bomb 33; Übersetzung von Ursula Bethke. Herbst 1990, S. 36-41.

WITTKOWER, Rudolf und Margot, Künstler – Aussenseiter der Gesellschaft. Stuttgart, Klett-Cotta: 1989.

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PetissaPan

PetissaPan studiert interessiert & neugierig das Leben, und schafft nebenher, leidenschaftlich und fleissig Kreativität, Text & Mode. Sie geht mit offenen Augen & Sinnen durch die Welt, und saugt Inspirierendes & Bereicherndes auf. PetissaPan ist und kreiert leicht, weich, romantisch, verspielt und wunderbar verträumt. Is your world little to mainstream? PetissaPan created an own.

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